FRIEDRICH IN DEN GRIECHEN SUCHEN

Die Avantgarde schaute nicht zurück. Sie bildete sich im Blick nach vorn und auf der Grundlage von Manifesten. Von Friedrich habe ich noch kein Manifest gelesen, nur Skulpturen gesehen. Friedrich schaut zurück, und über alle historischen und stilistischen Brüche zeigen sich ihm die Griechen. Vielleicht haben allerdings die Griechen selbst nicht überlebt, jedoch das Staunen der Völker, ihre Rezeptionsgeschichte. Die Griechen geben die kulturelle Kontrastfolie von der Ostsee bis zum Indus, von den Etruskern bis zur Moderne, vor der sich Völker selber finden können.

Das Strahlende der Griechen, der rosenfingrige Morgen nach orientalischer Nacht, ist uns fremd geworden. Uns erstaunt die Spekulation über die Atome des Demokrit oder die Sicherheit, mit der Aristarch von Samos die Erde um die Sonne kreisen und den Mond die Flut bewirken lässt. Wir erschrecken vor der Präsenz klassischer Bronzen: Die Pupillen aus Lapislazuli gefasst in Elfenbein unter metallenen Wimpern, Lippen aus Kupfer, dazwischen leuchten Zähne aus Silber, der Leib golden flimmernd in Wachs und Öl. Uns befremdet die Verachtung für den Künstler als Menschen und die grenzenlose Verehrung seines Werks.

Was wir besser nachvollziehen können, dass der Klassizismus dort seine Blässe findet, der Barock seine dionysischen Feuerköpfe, die Renaissance Ebenmass mit schwarzer Patina. Die Griechen werden für jeden Stil bemüht und für seinen Sturz. Das Gespräch mit den Griechen begleitet auch den kurzatmigen Wechsel moderner Stile als Ateliergespräch. Das Gemurmel ist undeutlich, eher eine Hintergrundmusik wie das Murmeln eines Baches oder eines heranziehenden Gewitters. Auch bei Friedrich.

Die Griechen sind nicht ausschließlich hochgestimmt. Was ist, wenn die Götter nicht mehr unter ihnen weilen? Noch schlimmer, wenn ein Gott als neckischer Mechaniker, Demiurg, nur so zu seinem Vergnügen Welten als Bühnenkästen entwirft, in denen der Mensch zur Unterhaltung der Götter gegen die Wände seiner Illusionen läuft. Auch das ist Griechisch. »Friedrichs Welten« erscheinen mir manchmal als solche Beziehungs- und Bühnenkästen. Doch ausweglos sind sie nie.

Viel eher scheint mir »Friedrichs Welt« von einer griechischen Erwartung durchzogen zu sein: Dass in allen Leidenschaften, in allen Körpern und Bewegungen ein plötzliches Erscheinen des Göttlichen möglich ist, auf das alle Figuren warten und welches das Festhalten an der Erhabenheit der menschlichen Figur rechtfertigt. Was auch bei Friedrich von der Klassik durchscheint, ist z.B. die Präsenz des gespannten, lebensgroßen männlichen Torsos. Doch tritt er nicht heraus ins Freie, sondern bleibt wie eine dünnschalige Maske über den Körper gezogen, immer gehalten von der schützenden Wand.

Griechisches besitzen seine Gewandfiguren. Auch wenn die Gespanntheit der Glieder sich ins Textile und Vegetabile wandelt und sich die Umrisslinien zum Reliefgrund hin öffnen. Zum griechischen Streben nach Geschlossenheit (Das Unbegrenzte, Apeiron, ist ihr Schrecken.) gesellt sich hier ein romantisch melancholischer Ton. Auch diesen Klang haben die Griechen im Verschwinden angeschlagen. Denn der Liebe zum Maß entspricht die Neigung zur Maßlosigkeit, Streit und Hybris. So kämpft Held gegen Held, Polis gegen Polis, Hellene gegen Barbar. Was bleibt, ist die gepflegte Melancholie des Scheiterns.

Untergangspathos und Fragment prägen auch unsere Anschauung von Kunst seit den in der Renaissance ausgegrabenen, geschwärzten, zerbrochenen Bildwerken. Die Griechen sind auch noch die Kontrastfolie für die rückwärts laufende Schöpfungsgeschichte der Avantgarde, von der Form zum Amorphen. In dieser Rezeption der geschundenen Torsierungen, der vieldeutigen Rudimente und versetzen Bruchstücke treffen wir auch Friedrich. Meine erste Figur von Friedrich war ein kleiner weiblicher Torso, der durch die Fensterscheibe einer Galerie so kompakt und klar, konzentriert und zerbrechlich wie ein antiker Torso erschien. Roter Ton mit weißen Nähten, Riefen und Poren. Wo immer sie nun steht, schafft sie sich ein schützendes Gehäuse und beginnt ein vertrautes Gespräch mit der Umgebung.

Friedrichs Figuren ähneln hölzernen Musikinstrumenten mit feiner Maserung und filigraner Bespannung, die ihre Umgebung in Schwingung versetzen, egal was am Anfang stand, ein gesprungener Ziegelstein, eine Muschel oder andere Anregungen. Friedrich schabt an der Oberfläche eines Steins, um ihn zum Leben zu erwecken. Er überlagert ihn, gibt ihm ein Gegenüber, und der Stein wird Figur. Auf einem flachen Dachziegel wird ein Tonscherben zu einer Trauernden und der Ziegel zum heiligen Ort.

Die Schöpfung »rückwärts buchstabieren« führt nie zur Autonomie, sondern immer zu neuem Zusammenwirken. Alles korrespondiert und kann in unterschiedlichem Zusammenhang neuen Ausdruck gewinnen. Die meisten Stücke sind klein und sie schmeicheln oft in der Hand wie ein Kieselstein. Aus der gefundenen Form wächst das Belebte, und das kann weitergehen bis zum Dramatischen. Die Muschel kann zur Bühne werden, das ist sogar historisch die beliebteste Form. Und die Bühne kann weiterwachsen bis zur Stadtsilhouette, zum Stadtraum. Auch das ist eine verges­sene, aber wirkungsmächtige Vorstellung des Städtebaus: Die Stadt als Bühne der Urbanität und gewachsener Vielfalt.

Mehr als den strahlenden Göttern ähneln Friedrichs späte Skulpturen den Verletzlichen und Versehrten: »Helmkopf«, ein bronzenes Rund erstarrter Schlacke gestürzt auf einen Ziegelstein, der »Pferdekopf«, aschfahle Erinnerung an Nüstern, Augen Ohren und alle die Figuren, gestürzt oder mit verstümmelten Flügeln. In ihrer Verletzlichkeit sind die Griechen aktuell und modern geblieben nicht in ihrer Heldenhaftigkeit, für Christa Wolf ist Achill »Aas Tier«. Die Schönheit strahlt für uns nicht mehr. Sie ist reflexiv, Erinnerung, ausgegraben, rudimentär, unsere Phantasie. Den Griechen ist aber gerade die Phantasie suspekt, der Torso fast eine Lästerung, das Relikt, die Patina, das Museale fremd. Trotzdem haben sie die fruchtbarsten Grabungsfelder hinterlassen. Denn nichts, was den Göttern geschenkt wurde, durfte den Tempelbereich verlassen. So wurde alles vergraben. Die Archäologen sind heute besser über das Leben auf der vorklassischen Akropolis in Athen unterrichtet, als über die klassische Akropolis des Perikles, die wir heute noch sehen.

Friedrich setzt die durch eine Haut von Wachs, Ton oder Bronze wiederbelebten Rudimente zurück in die Erde aus der sie kamen. Das Hochstehende ankert im Grund, das Kompakte entfaltet sich im Weiten. Ausgrabungsflächen werden mit geometrischen Mustern überzogen, in denen sich die Relikte des Lebendigen und Schönen im »Fahndungsraster« der Grabung fangen lassen.

Seit Jahrhunderten fahnden wir so nach den Griechen und fanden uns selbst, von der Renaissance bis heute. Und vielleicht wird durch diese plastische »Ausgrabungsarbeit« von Friedrich der Graben zwischen uns und den Griechen, zwischen Rudiment und Vollkommenheit, zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Nachgeborenen und Erstgeborenen ein wenig zugeschüttet.

Dr. phil. Dirko Thomsen